Als kleines Mädchen war ich mit den Eltern in Italien. Kultur!
Ich war ein eigensinniges Kind mit einem verschwindend geringen Interesse an alten Gemäuern. Heute erinnere ich mich nicht mehr an die Orte, die ich laut Beweisfotos im elterlichen Album besucht habe: Miramare, Stauferburg, Monte St. Angelo… Ich leide an völliger Amnesie.
„Ah, ich hab´s!“, sage ich angesichts eines Fotos von anno 1981. „War das dort, wo wir die Hütehunde gesehen haben? Eine große Herde Schafe auf der Straße und zwei Hütehunde? Braun-graue Schäferhunde, einer hatte Kippohren?“ Ja. Dort war das.
An Venedig erinnere ich mich deutlicher. Oh bitte, fragen Sie mich bloß nicht nach dem Markusdom. Keine Ahnung, wie der aussieht. Meine kulturbewußten Eltern waren sich durchaus nicht im Klaren, dass sich eine künftige Biologin zwischen heiligen Steinen tödlich langweilt.
Die trübe Erinnerung an „irgendein goldenes Zeug“ im Kircheninneren hellt aber sofort zu einem deutlichen Bild auf, wenn ich an „den Hund bei der Gelateria“ denke. Oh ja! Der war eher klein, von braun-weißer Farbe, mit etwas längerem Haarkleid und einer befederten Rute. Ein nettes Tier. Als man mich trotz meiner Seufzer über zahllose Brücken schleifte, entdeckte ich noch mehr solche Hunde. Alle braun und weiß, ungefähr 10 kg, ähnlich einem Spitz.
„Ich will einen Hund aus Venedig“, informierte ich meine Eltern. Was ich bekam, war ein Bruder. Und ja, viel später auch einen Hund, den Schäfer-Husky-Mix „Merlin“. Er war ein guter Hund, unser Merlin, aber die venezianischen Hunde haben nie aufgehört in meinem Kopf zu spuken.
Heute sind sie wohl restlos verschwunden. Einen von ihnen habe ich vor 15 Jahren an der Seite eines italienischen Studenten noch gesehen. Dieses Tier stammte tatsächlich aus Venetien und konnte klettern wie eine Katze. Aber das muss einer der letzten gewesen sein. Im „Dossier sui gruppi etnici canini autoctoni italiani a limitata diffusione“ (Tuminelli, Giovanni/Crepaldi, Antonio, 2020) fehlt mein braun-weißer Venedig-Spitz. Aus dem Umstand, dass ich dieses nicht besonders auflagenstarke Werk augenblicklich gekauft habe, obwohl ich nicht Italienisch spreche und die Verkäuferseite keine Sprache außer Italienisch beherrschte, können Sie erkennen, welchen Dickschädel das kleine Mädchen in Venedig damals hatte. Leider ist mein Kindheitsheitstraum Opfer des Biodiversitätsverlustes geworden. Wenn ich ihn noch sehen will, muss ich auf alten Gemälden von Venedig ganz genau hinschauen. Da sitzt mitunter im Hintergrund (zusammen mit Vorfahren der Bologneser) mein braun-weißer, venezianischer Spitz. Schade drum!
Aber die braunen Schäferhunde, die ich als Kind in Italien gesehen habe, konnte ich identifizieren: Dieser Hundetyp heißt heute „Cane Toccatore Abruzzese“. Es handelt sich wohl um Restbestände der Arbeitshunde, aus denen der heutige Deutsche Schäferhund hervor ging.
Wussten Sie, dass in den Listen bedrohter Haustierrassen üblicherweise auf die Hunde vergessen wird? Nur wenige Länder erfassen ihre lokalen Schläge. Nur der FCI-anerkannte Rassehund ist gesellschaftlich akzeptiert, alle anderen Hunde gelten als arme Hascherl, die man am besten gleich kastriert. Über 1000 Landschläge – gegenüber rund 400 FCI-Rassen – teilen also das Schicksal der regionalen Obst- und Gemüsesorten. Außer, es fände ein Umdenken statt.
Leb wohl, mein venezianischer Spitz.