Von Landrassen, Kunstrassen und Rassisten.

„Ist das ein Mudi?“ „Ja, kommt direkt aus Ungarn.“ „Reinrassig?“ „Wie man´s nimmt. Gehört zur Landrasse.“ Fünf Fragezeichen bilden sich im Gesicht des Gegenübers. „Ich meine, die Eltern sind Hofhunde auf einem Nebenerwerbs-Bauernhof. Meine Kleine hat keine Ahnentafel.“ Die distinguierte Hietzinger Dame kaut jetzt offensichtlich an Oh-Gott-ein-Vermehrerhund, schluckt diesen Satz höflich runter, zerrt ihre reinrassige Französische Bulldogge (mit Ahnentafel!) auf Abstand und entgegnet: „Na es macht ja nichts, solche Hunde brauchen auch ein Zuhause!“

Wieso macht es etwas, wenn ich mich nicht – wie empfohlen/befohlen – zum „seriösen Züchter“ begebe, um einen „registrierten Rassehund“ zu kaufen? Darf ich nicht selbst entscheiden, welcher Züchter „seriös“ ist? Warum muss mein Hund ein standardisiertes und registriertes Produkt eines Unternehmens (Rasseclub) sein? Reden wir hier nicht von einem Säugetier, zu dessen biologischen Besonderheiten größtmögliche Individualität zählt?

Ich behaupte, dass ich einen Verlust mache, wenn ich 1000+ Euro für einem Welpen vom Rasseclub zahle. Ich behaupte, dass ich in jedem Yanomami-Dorf einen fitteren Hund bekomme als bei den meisten Rasseclubs – und das auch noch wesentlich billiger.

Am Anfang war die Landrasse: Menschen wanderten mit ihren Nutzpflanzen und Haustieren in ein Gebiet ein und siedelten sich dauerhaft an. Ihr Körperbau, ihre Haut- und Haarfarbe, ihre Ernährungsweise und ihre Immunabwehr passten sich im Lauf von Jahrhunderten an die Anforderungen dieser Region an.

Wenn man mit primitivster Ausrüstung eine Wildnis durchquert, achtet man bei den mitziehenden Haustieren eher nicht darauf, ob sie eine „erlaubte“ Farbe haben oder ob ihre Ohren 1cm zu lang sind. Für Landrassen gibt es keine Rassestandards, keine Ausstellungen, keine Ahnentafeln und keine Zuchtbücher. Grönländer und Yakuten finden vermutlich schon die Idee, die Nasenfarbe ihrer Zughunde nach Punkten zu bewerten, überaus spaßig. Nur Gesundheit und Gebrauchsfähigkeit sind wichtig.

Eine Landrasse ist unvollständig isoliert durch Geografie, Sprache und Gebräuche der Menschen. Auf die Tiere wirkt die natürliche Selektion (Klima, Krankheitserreger, Verknappung bestimmter Nährstoffe, schlechte oder gar keine Vet-Versorgung) und die Selektion durch den Menschen (Auswahl guter Arbeitstiere). Da Menschen Handel treiben und ihre Töchter mit Mitgift (Vieh, Hunde…) in die Ehe geben, findet genetischer Austausch statt, es sind also meist offene Populationen.

Landrasse-Hündinnen gebären – auch heute noch! – in selbstgegrabenen Höhlen oder in einfachen Unterständen. Sie nabeln ab und säugen, ohne menschliche Hilfe zu benötigen. Es gibt wenig oder keine Tierarztversorgung, keine Leinenpflicht und keine bemutternden TierschützerInnen. Schwache Tiere bleiben nicht am Leben, denn die Hündinnen selbst drängen Welpen ab, die nicht ausreichend vital auf ihr Lecken antworten. Hunde, die nicht absolut friedlich mit Kindern und Vieh zusammenleben, werden vom Besitzer erschlagen. Solange Menschen die Tiere nötig brauchen, verlangen sie ihnen allerdings nicht mehr Arbeit ab als sie selbst leisten.

Diese rauen Lebensbedingungen führen zu einer Reinigung („Purging“) des Genpools von Defektmutationen. Landrassen (Tiere) und Landsorten (Pflanzen) sind daher als „Genreserven“ überaus wertvoll.

Im 19. Jahrhundert war es auch in Großbritannien breit üblich, die Vielzahl von Landschlägen zur Leistungsverbesserung zu kreuzen. Man kannte Hütehunde, Herdenschutzhunde, Windhunde, Molosser, Jagdhunde und Rattenbeißer jeweils in verschiedenen Schlägen, die wahllos als varieties, breeds, strains, types etc. bezeichnet wurden. Kreuzte man die Tiere vorsätzlich, so geschah es rein leistungsorientiert, nach Vorbild der Nutztierzucht und Gärtnerei: Noch leichtfuttriger, noch schneller und wendiger, noch bessere Nase, noch schärfer gegen Ratten usw.

Nicht immer brachten solche Crossings das gewünschte Ergebnis. Daraufhin hatten die britischen Gentlemen des Viktorianischen Zeitalters die Idee, Hunde so ähnlich wie Pferde in Gruppen zu ordnen, auszustellen und ihre Leistung zu bewerten, damit man Kreuzungsergebnisse vorhersagen und die Leistung verbessern könne. Dies war der Beginn der Rassezucht – und es ging dabei um geplantere HYBRIDZUCHT zum Zweck besserer LEISTUNG und GESUNDHEIT.

1859 fand in Newcastle die erste Hundeausstellung der Geschichte statt. 1866 veröffentlichte ein unbedeutender Augustiner-Abt seine Versuche zur gezielten Kreuzung von Erbsen und begründete damit die Genetik. Gregor Mendels Erkenntnisse fanden lange nicht die gebührende Anerkennung. In Großbritannien begann man die Rassezucht ohne das geringste Verständnis der Genetik und Populationsbiologie.

Stattdessen floß der Geist jenes Zeitalters in den neuen Hype der Reinzucht von Hunden ein. Man meinte, dass der Intellekt des Menschen über die Natur erhaben sei und menschliche Regulierung der Natur zu deren Verbesserung führe. Da „Verbesserung“ im Auge des Betrachters liegt, nannte ein Herr Dawkins Appleby die von ihm veranstaltete Hundeausstellung im Jahr 1862 „The Monster Dog Show“ – und nur wenige Jahre später beklagten Tierfreunde bereits ein „breeding up to defects“, kritisierten bereits Bulldoggen mit zu kurzer Nase und Bluthunde mit entstellenden Falten.

In jener Zeit wählte man aus dem Pool der Landrasse-Hunde nach persönlichem Geschmack einige Tiere aus und begann sie durch Inzucht zu „verbessern“ – oder was man eben darunter verstand. Hatte man das Ziel erreicht, wurde das Zuchtbuch geschlossen und die Rasse wurde nur mehr „rein“ gezüchtet. Keine neuen Hunde kamen mehr in den Genpol.

Heute wissen wir, dass eine isolierte Tierpopulation nur dann überlebensfähig ist, wenn eine Mindestzahl von GRÜNDER-INDIVIDUEN vorhanden ist. 50 nicht verwandte Tiere gelten als Minimum. Wenn man heute von der langfristigen Rettung bedrohter Arten spricht, gelten mindestens 500 (besser 1000) gesunde und nur geringgradig verwandte Founder als notwendig für die Zukunftsfähigkeit dieser Tierart. („50/500-Regel“)

Gibt es nur wenige Founder, dann liegt die einzige Chance der Tierart oder Tierrasse in knochenharter, natürlicher Selektion – dem PURGING. Manche Wildtiere weisen derzeit sehr hohe Inzuchtgrade auf, etwa die Braune Hyäne oder der Gepard. Solange die natürliche Selektion alle Träger suboptimaler Genkombis aus dem dem Genpool entfernt, bleibt die Art oder Rasse dennoch überlebensfähig. Da bei jeder Meiose neue Mutationen auftreten, von denen einige vorteilhaft sind, kann die genetische Vielfalt langsam wieder steigen. Die Art oder Rasse überwindet den „genetischen Flaschenhals“ und erholt sich.

Bei der Gründung der Hunderassen im 19. Jahrhundert wählte man in der Regel viel zu wenige Founder. Oft waren es deutlich weniger als 50 Gründertiere. Für den Cavalier King Charles Spaniel beispielweise geht man von ungefähr 10 Foundern aus. 500 Founder wurden bei keiner Rasse erreicht.

Kunstrassen gehen auf wenige Founder zurück. Sie sind geschlossene und sexuell völlig isolierte Populationen, kein fremder Hund darf sich einkreuzen. Es findet kaum natürliche Selektion statt, sondern der Mensch selektiert vorrangig nach optischen Kriterien.

Bei den meisten Rassen gibt es auch keinerlei Purging. Nur sehr wenige Hunderassen (etwa Foxhounds) werden strikt auf Leistung gezüchtet. Die meisten sollen „schön“ sein und ein paar Alibi-Gesundheitstests absolvieren. Wirre Ideen bezüglich „Verbesserung“ der Hundeanatomie führen zu abstrusen Zuchtzielen, etwa dem Senkrücken beim Deutschen Schäferhund. Das Fließheck soll einen ausdauerndem Traber gewährleisten – aber nur wenige Deutsche Schäferhunde könnten mit einer wandernden Herde mithalten und aufmüpfigen Schafen den Weg auf fremde Felder verwehren. Eine solche Reise mit der Herde, jedes Jahr, wäre Purging – nicht ein Röntgen, ein paar kurze Dressurmätzchen am Hundeplatz und eine Ausstellung. Neben den Herden laufen bis heute überwiegend Landrassen mit normalem Gebäude.

Unsere Rasse hatte also – zum Beispiel – 22 Founder, deren Nachkommen untereinander verpaart und weiter „verbessert“ wurden. Jedes Mal, wenn ein Hund von der Zucht ausgeschlossen wurde – wegen schlechter Bewertung durch die Richter, nicht zuchtwilliger Besitzer oder frühem Tod – nahm er einen kleinen Teil der Diversität seiner Rasse mit ins Grab. Tröpfchen für Tröpfchen sozusagen wurde die genetische Vielfalt innerhalb der reinen Rasse immer geringer. Beim Cavalier schätzt man, dass von den ursprünglich 10 Foundergenomen der Rasse nur mehr 6 bis 8 vorhanden sind. (Man spricht von „EFFEKTIVEN FOUNDERN“.)

Die Anzahl effektive Founder hat NICHTS mit der Anzahl Hunde zu tun. Cavaliers sind sehr beliebt und sicherlich leben auf der Welt mehr als 10 000 Vertreter dieser Rasse – aber genetisch gesehen sind es zwischen 6 und 8. Eine ganze Menge Hunderassen sehen wir zwar täglich, aber genetisch betrachtet sind sie seltener und gefährdeter als Pandabären.

Der Genpool einer reinen Rasse verkleinert sich jedes Mal, wenn ein Hund – egal aus welchem Grund – nicht zur Zucht verwendet wird. Jedes Mal geht ein klein wenig genetische Information verloren. Fremde Hunde dürfen nicht eingekreuzt werden und die natürliche Selektion fehlt. Es kommt daher unausweichlich zur Qualitätsverschlechterung der Rasse.

Analog dazu: Die Worte des Jesus von Nazareth wurden nach seinem Tod von etlichen Gläubigen seiner Lehre niedergeschrieben und interpretiert. Thomas-Evangelium, Evangelium nach Maria Magdalena usw usw. Diese entsprechen sozusagen den Landrassen. Um 400 n.Chr. wurde der Kanon der Bibel festgelegt, ab nun galten bestimmte Texte als wahr und der Rest sollte verschwinden. (Reine Rassen vs. Landrassen.) Die Bibel kann vervielfältigt werden – aber sie bekommt dadurch nicht mehr Textinformation. 10 000 Cavaliere haben auch nur die genetische Information ihrer 10 Founder. Und wenn ich aus der Bibel Textstellen beseitigte, weil sie vielleicht den heutigen Zeitgeist verletzen, würde die Information der Bibel immer geringer – egal wie viele Kopien des Buches ich anfertige.

Heutige Rassehunde sind nicht besser als ihre Vorgänger. Sie sind schlechter – manchmal nur ein klein wenig schlechter, manchmal sehr viel schlechter. Solange die Zuchtbücher geschlossen sind und die Rassen mit winzigen Genpools „rein“ gezüchtet werden, ist weitere Verschlechterung unausweichlich. Sie sind überwiegend katastrophal inzüchtig und sie werden entsetzlich betüddelt, um die Folgen der Inzucht zu kaschieren. Künstliche Besamung, Wurfkiste mit Abstandhaltern, Rotlicht, schwache Welpen tierärztlich „gerettet“ und später vielleicht Ausstellungssieger, züchterisches Jonglieren mit Erbdefekten via „Gesundheitstests“ (de facto Schadenslimitierung), allerlei „hochwertiger“ Futterbrei, Welpengehege mit Bällchenbad… Zigtausende freilebende Hunde können sich offensichtlich sehr erfolgreich ohne solchen Schmonzes fortpflanzen.

Ich bin nicht willens, für solche Welpenqualität 1500+ Euro zu bezahlen. In meinen Augen ist das reine Abzocke. Ich suche mir einen genetisch heterozygoteren Hund mit einer grundlegenden Überlebensfähigkeit, zu einem reelleren Preis.

Der Begriff „Rasse“ ist mit einer Bewertung der Existenzberechtigung verbunden. Es gibt da einerseits die Ansicht, jeder nicht „reinrassige“ Hund sei minderwertig und via Genitalverstümmelung (vulgo medizinisch nicht gerechtfertigte Kastration) genetisch aus dem globalen Hundebestand zu tilgen, damit er sich nicht „vermehre“. Wer es wagen sollte, einfach mal zwei gute Gebrauchshunde ohne Pedigree privat zur verpaaren, ist ein „Vermehrer“. Dies sind Ideen aus einer Zeit, die nach etlichen üblen Auswüchsen in unserem Führer Adolf gegipfelt hat. Nein Danke, dieses Gedanken“gut“ lasse ich nicht in mein Leben.

Umgekehrt erlangt jeder Hund Adel und einen Verkaufswert ab 1500 Euro, sobald er eine Rassebezeichnung trägt. Also zum Beispiel „Labradoodle“ (ok) oder „Exotic Bully“ (grässlich). Puristen bekommen jetzt natürlich Schnappatmung, den wahren Adel erlangt eine „registrierte Rasse“ nämlich erst, wenn sie in einem „seriösen Verein“ rein gezüchtet wird, so wie zum Beispiel der Pudelpointer, den man auf Neudeutsch auch Pointapoo nennen könnte. Was seriös ist, darf man sich als Welpeninteressent ausschnapsen – Exotic Bully und English Bulldog (FCI) sind gleichermassen krank, so what.

Ich definiere einen „guten Züchter“ so: „Ein guter Züchter ist ein Mensch, der phänotypisch und genotypisch möglichst diverse und gesunde, billig und ressourcenschonend zu erhaltende, robuste und langlebige Tiere oder Pflanzen züchtet, die ohne wesentliche Einschränkungen zum Normalverhalten ihrer Art befähigt sind. Ein guter Züchter begünstigt die Weiterentwicklung und Veränderung seiner Rasse in Anpassung an klimatische oder sonstige Herausforderungen.“

Es ist mir scheißegal, ob dieser Mensch bei der FCI, der „Dissidenz“, beim Minigolf-Verein oder überhaupt nirgends registriert ist. Ebenso ist es mir – wie den meisten Menschen übrigens – scheißegal, ob mein Welpe reinrassig ist. Als urban lebende Hundehalterin füge ich noch hinzu: „Mein Hund frisst bitte keine Menschen, benötigt keine 7000 Schafe und muss auch nicht zur Schnepfenjagd geführt werden. Er ist anpassungsfähig und friedfertig.“ Und aus.

Wenn Hunde als minderwertig und nicht normal daseinsberechtigt („Kastriiiiieren!“) bewertet werden, weil sie Mischlinge sind oder einer Landrasse, einer Gebrauchskreuzung, einem Zuchtversuch angehören, dann ist das Rassismus im Wortsinn. Darauf sollte man nicht stolz sein.

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